Hessische Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz e.V.

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Ausreichend Daten, aber zu wenig Taten?

Eine taxonübergreifende Analyse der europäischen Roten Listen

Rote Listen: „Barometer des Lebens“

Der weltweite Biodiversitätsverlust schreitet in einem noch nie dagewesenen Tempo voran, sodass rund 1 Millionen Tier-, Pilz- und Pflanzenarten in den nächsten Jahrzehnten vom Aussterben bedroht sein könnten. Viele (internationale) Abkommen, wie z. B. das Übereinkommen über die biologische Vielfalt (kurz auch Biodiversitätskonvention, CBD) oder die Ziele für nachhaltige Entwicklung (kurz SDGs) der UN, wurden erarbeitet, um den Biodiversitätsverlust zu vermindern.

Um Fortschritte im Stopp des Biodiversitätsverlustes zu erkennen, sind aktuelle Informationen zur Verbreitung, zu ökologischen Anforderungen und zu Bedrohungsfaktoren von Arten erforderlich. Die Fortschrittskontrolle erfolgt hierbei meist indem überprüft wird, ob einzelne Zielsetzungen der Abkommen erreicht wurden – hierzu werden häufig die Bewertungen der Erhaltungszustände von Roten Listen verwendet. Beispielsweise ist die Rote Liste der bedrohten Arten der IUCN (Internationale Union zur Bewahrung der Natur) weithin als der umfassendste und objektivste Ansatz zur Bewertung der Erhaltungszustände von Arten anerkannt und wird auch als globales "Barometer des Lebens" bezeichnet.

Gefährdung der Biodiversität in Europa

Basierend auf den Daten der Roten Liste der IUCN für alle in dieser Roten Liste erfassten Arten, die in Europa vorkommen (14.669 Pflanzen- und Tierarten), veröffentlichte ein internationales Team um Axel Hochkirch, Professor an der Universität Trier und Kurator für Ökologie am Nationalmuseum für Naturgeschichte Luxemburg, eine taxonübergreifende Analyse zu Verbreitungsmustern und Gefährdungen der biologischen Vielfalt in Europa.

Die Publikation der Wissenschaftler*innen mit dem Titel „A multi-taxon analysis of European Red Lists reveals major threats to biodiversity”, erschienen im November 2023, kann in der Fachzeitschrift PLoS ONE gelesen werden.

Größte Datenlücken bei Wirbellosen

Die Studie zeigt auf, dass der Anteil an bedrohten Arten, dies umfasst die drei Rote Listen Kategorien vom Aussterben bedroht, stark gefährdet und gefährdet, bei Invertebraten (Wirbellose, wie z.B. Schnecken, Würmer oder Insekten) mit 24% höher ist als bei Vertebraten (18%, Wirbeltiere). Der höchste Anteil an bedrohten Arten wurde bei den Pflanzen festgestellt (27%). Ein Säulendiagramm aus der Studie zeigt diese Unterschiede graphisch auf (siehe hier). Auffällig in der Abbildung ist der relativ ausgeprägte graue Bereich in der Säule der Invertebraten: der graue Bereich stellt die DD-Kategorie (= ungenügende Datengrundlage) dar. Eine Einordnung in eine spezifische Gefährdungskategorie kann für Arten der DD-Kategorie nicht erfolgen, da vorhandene Daten zu der entsprechenden Art für eine Klassifizierung nicht ausreichen. Die Autor*innen der Studie weisen darauf hin, dass die Anzahl der Arten mit ungenügender Datengrundlage mit 18% aller in der Studie inbegriffenen europäischen Arten recht hoch ist und das obwohl Europa grundsätzlich gut erforscht ist. Der Mangel an Daten ist hierbei bei den wirbellosen Tieren (24%) deutlich höher als bei den Pflanzenarten (11%) oder Wirbeltieren (10%). Besonders stechen hierbei die europäischen Bienen heraus: bei 57% der Bienenarten ist die Datenlage ungenügend.

Gefährdungsfaktoren: von Landnutzungswandel bis zu Umweltverschmutzung

Die Analysen der Studie bestätigen, dass die Biodiversität durch eine Vielzahl von Gefährdungen beeinträchtigt wird. Die schwerwiegendste Bedrohung für die europäischen Arten ist die veränderte landwirtschaftliche Bodennutzung (Stichwort: Landnutzungswandel). Die Veränderungen in der Landwirtschaft sind hierbei vielfältig und umfassen z.B. die Umwandlung natürlicher Lebensräume in Ackerland, zunehmende Intensivierung und Homogenisierung, aber auch Flächenstilllegungen und Nutzungsaufgabe von beispielsweise Grünlandflächen. Gefolgt wird der Landnutzungswandel von der Übernutzung biologischer Ressourcen, der fortschreitenden Besiedlung (Wohn- und Gewerbegebiete) sowie der Umweltverschmutzung. Der Klimawandel stellt ebenfalls eine große Bedrohung für viele Arten dar. Er wurde als die wichtigste künftige Bedrohung eingestuft.

Eignung unserer Schutzgebiete?

Fast die Hälfte (47%) der bewerteten Arten in Europa sind endemisch: insbesondere ein Großteil (86%) der bedrohten Wirbellosen sind in Europa endemisch. Eine in der Studie erfolgte räumliche Analyse der terrestrischen Artenvielfalt unterstreicht die Bedeutung von Gebirgsregionen. Die höchste Artenzahl pro Fläche wurde in den Südalpen, den östlichen Pyrenäen und dem Pirin-Gebirge in Bulgarien verzeichnet. Die Analyse zeigte jedoch auch, dass nur etwa die Hälfte (54%) aller bedrohten Arten in Schutzgebieten dokumentiert wurden. Dies lässt laut Autor*innen Zweifel an der Eignung des europäischen Schutzgebietsnetzes als Mittel zum Schutz aller bedrohten Arten aufkommen und hebt die Notwendigkeit zur Erweiterung und Verbesserung hervor.

Ausreichend Daten, aber zu wenig Taten?

Auch wenn die Autor*innen der Studie aufzeigen, dass durchaus noch große Datenlücken bestehen, betonen sie, dass wir über genügend Erkenntnisse verfügen, um im Sinne der Biodiversitätserhaltung zu handeln, was jedoch fehlt sind aktive Umsetzungen: „We already have enough evidence at hand to act—what we are missing is action“ (Hochkirch et al. 2023). Die Wissenschaftler*innen führen an, dass die Messung und Bewertung von Trends von entscheidender Bedeutung für die Ausrichtung der Politik ist, aber es noch wichtiger ist, dass notwendige Erhaltungsmaßnahmen rechtzeitig umgesetzt werden. Vertiefende Informationen hierzu können Sie in der Studie lesen. Ich empfehle Ihnen insbesondere auch einen Blick in Abbildung 3 der Publikation: Diese zeigt wie viele der Arten der untersuchten Taxa von den jeweiligen Gefährdungsfaktoren beeinflusst sind.

Dr. Yvonne Schumm